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Verkehr und Umwelt

Kostenloser Nahverkehr – Gebot der Stunde oder Wunschdenken?

Jeder, der den öffentlichen Nahverkehr in Anspruch nehmen will oder gar darauf angewiesen ist, stöhnt über die die hohen Kosten für die Beförderung. Wenn alle Welt über Klimaschutz redet und der Autoverkehr auf Autobahnen und Innenstädten reduziert werden soll, erscheint es angebracht, den Nahverkehr im öffentlichen Bereich kostenlos anzubieten. Wie immer, gilt es, die Vorteile und Nachteile gegeneinander abzuwägen. Einfach zu sagen, Nahverkehr müsse kostenlos sein und sei staatliche Bürgerpflicht, greift zu kurz, genauso wie das Argument der Verkehrsbetriebe, die Kostenlast sei zu hoch und könne nur durch höhere Preise aufgefangen werden.

Welchen Zweck verfolgt der Nahverkehr?

Der öffentliche Personennahverkehr soll allen Menschen unabhängig von Alter, Einkommen und Führerschein Mobilität ermöglichen. Der Nahverkehr sollte eine echte Alternative zur Nutzung des eigenen Kraftfahrzeuges bieten und Anreiz dafür sein, das eigene Auto in der Garage zu lassen. Es geht darum, Straßen, Innenstädte und Parkräume zu entlasten, relativ schnell von A nach B zu gelangen und sicher und möglichst stressfrei befördert zu werden. In den vergangenen Jahrzehnten stand der öffentliche Nahverkehr in Konkurrenz zur Wirklichkeit. Städte wurden autofreundlich gestaltet, riesige Parkplatzflächen wurden eingerichtet, Verkehrsschneisen durch die Innenstädte geschlagen und Fußgänger und Radfahrer an den Fahrbahnrand verdrängt.

Welche Perspektiven hat der Nahverkehr?

Der demokratische Wandel wirkt sich auch auf den Nahverkehr aus. Künftig werden weniger Schüler Bahn- und Busangebote nutzen, während die ältere Generation eine hohe Führerscheinquote aufweist. Der Nutzerkreis, der früher hauptsächlich den Nahverkehr nutzte, verändert sich also zum Nachteil des Nahverkehrs. Es gibt immer mehr Fahrgäste, die sich bewusst für oder gegen Bahn und Bus entscheiden können, weil sie eben gerade nicht mehr darauf angewiesen sind, den Nahverkehr nutzen zu müssen. Zwangsläufig muss das Angebot verstärkt auf diesen Nutzerkreis eingehen, Nutzungshemmnisse abbauen und das eigene Image verbessern. Positiv ist, dass in vielen deutschen Universitätsstädten viele junge Menschen leben, die Wert darauf legen, mit dem eigenen Fahrrad, aber auch mit Bus oder Bahn ans Ziel zu gelangen.

Warum ist die Kostenstruktur problematisch?

Ein Angebot kann noch so gut sein, wenn es nicht bezahlbar ist, wird es nicht genutzt. Ein typisches Beispiel findet sich im Saarland. Das Saarland wurde in Waben unterteilt, nach denen sich der Fahrpreis ermitteln. Jede Wabe entspricht einer Preisstufe. Der Preis der Fahrkarte richtet sich danach, wie viele Waben der Nutzer während der Fahrt durchfährt. Das ist soweit gut und schön. Sobald der Nutzer aber eine Wabe verlässt und in eine andere Wabe einfährt, erhöht sich der Fahrpreis unverhältnismäßig. Er zahlt einen wesentlich höheren Fahrpreis, obwohl er in der zweiten Wabe vielleicht nur eine einzige Haltestelle nutzt und dort aussteigt. Der Unmut über diese Wabenstruktur ist groß.

Was ist die Prämisse für den Nahverkehr überhaupt?

Derzeit erscheint es ziemlich unrealistisch, Nahverkehr kostenlos anzubieten. Irgendwer muss den Kostenaufwand tragen. Es kann allenfalls darum gehen, Nahverkehr so zu gestalten, dass er wenigstens so kostengünstig wie möglich angeboten werden kann und wenigstens eine wirtschaftlich sinnvolle Alternative zum Individualverkehr mit dem Auto ist. Insoweit muss die Infrastruktur so angepasst werden, dass auch der öffentliche Nahverkehr überhaupt die Chance hat, potentielle Nutzer zu begeistern. Nahverkehr ist nur dann interessant, wenn das Transportmittel zuverlässig, praktisch und möglichst kostengünstig, bestenfalls kostenlos angeboten wird. Letztlich entscheidet eine Kosten-Nutzen-Kalkulation, ob Autofahrer bereit sind, vom Auto auf Bus und Bahn umzusteigen.

Was spricht für den kostenlosen Nahverkehr?

Natürlich wäre es ideal, den Nahverkehr kostenlos anzubieten. Vieles spricht dafür. Klar, jeder könnte jedes beliebige Transportmittel nutzen. Die Umwelt würde nachhaltig entlastet. Es gäbe weniger Verkehrstote. Auch gäbe es keine Schwarzfahrer mehr.

Wenn man den Klimaschutz in den Vordergrund stellt, ist festzustellen, dass jede von Autos ausgestoßene Tonne Kohlendioxid mit einem Schadenspotenzial von ca. 180 EUR zu Buche schlägt. 40 % der in Deutschland in die Luft geblasenen Stickoxiden werden nach Angaben des Umweltbundesamtes durch den Verkehr produziert. Eine Bus- oder Bahnfahrt verbrauche nach Angaben des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen nur halb so viel Energie pro Passagier als eine Fahrt mit dem Auto. Nach dem Bundesumweltamt sind aber auch gesundheitliche Kosten für Schädigungen des Herzkreislaufsystems, Gehörschäden oder Herzinfarkte als Langzeitfolgen chronischer Lärmbelastung einzubeziehen.

Gegen den Individualverkehr spricht auch, dass dieser stark subventioniert wird, wenn man berücksichtigt, mit welchem Kostenaufwand Straßen gebaut und Straßen unterhalten werden, mit welchen hohen Kosten Polizeieinsätze für die Unfallaufnahme oder die Verkehrskontrolle zu Buche schlagen oder die Spritpreise für Dieselmotoren weit unter denen für Normalbenzin liegen.

Was spricht gegen den kostenlosen Nahverkehr?

Dem Wunschdenken eines kostenlosen Nahverkehrs steht vielfach die Realität gegenüber. So haben Modellversuche in Großstädten wie Hamburg gezeigt, dass Autofahrer trotzdem nicht bedenkenlos auf den Nahverkehr umsteigen, nur weil das Transportmittel kostenlos angeboten wird. Vielen Autofahrer scheinen Komfort, Geschwindigkeit und Zuverlässigkeit, sowie die persönliche Bequemlichkeit wichtiger zu sein als der Preis. In Hamburg zeigt sich diese Einschätzung darin, dass die Straßen noch immer mit Autos überfüllt sind und in Berufszeiten Stoßstange an Stoßstange steht. Insoweit rechnen Kritiker damit, dass hauptsächlich Radfahrer und Fußgänger den kostenlosen Nahverkehr in Anspruch nehmen würden und gerade dann, wenn Bus und Bahn bereits ohnehin überfüllt sind, das Transportmittel noch mehr überfüllt wäre.

Interessant ist auch, dass sich über die Tarifgestaltung die Nutzungsintensität öffentlicher Verkehrsmittel gestalten lässt. Wer vor 9:00 Uhr morgens oder nach 17:00 Uhr abends unterwegs ist, zahlt entsprechend höhere Tarife als derjenige, der tagsüber fährt. So lässt sich insbesondere in Rushhourzeiten steuern, dass nur diejenigen das Verkehrsmittel nutzen, die wirklich genau zu diesem Zeitpunkt drauf angewiesen sind. Wäre alles kostenlos, wäre diese Lenkungsfunktion kaum möglich.

Letztlich ist es auch eine Frage des Komforts. Wenn die öffentliche Hand die Kostenlast trägt, führt dies dazu, dass in der Unterhaltung gespart wird, Unterhaltungsstau entsteht und sich der Komfort auf das Allernotwendigste beschränken wird. Nur dort, wo die Unterhaltung finanziell abgesichert ist, kann entsprechender Komfort angeboten wird.

Letztlich ist die Vorstellung, Nahverkehr kostenlos anzubieten, ein völliger Trugschluss. Irgendwer muss den Kostenaufwand für Anschaffung der Transportmittel, deren Unterhaltung und Infrastruktur bezahlen. Wer sonst als Steuerzahler käme dafür in Betracht. In Hamburg haben sie ausgerechnet, dass bei rund 3,5 Millionen Einwohnern im Jahr 2016 jeder Bürger über die Steuer mit 238 EUR belastet werden würde, um einen kostenlosen Nahverkehr zu realisieren. Wer dann, aus welchen Gründen auch immer, den Nahverkehr nicht nutzt, müsste sich an Kosten beteiligen, die er gar nicht verursacht.

Es wäre auch in Betracht zu ziehen, dass ein kostenloser Nahverkehr Menschen noch mobiler macht und dazu führt, dass ein öffentliches Verkehrsmittel noch stärker in Anspruch genommen wird und vielleicht noch stärker überfüllt ist. Wer die U-Bahnsteige in größeren Städten betrachtet, muss sich angesichts der Menschenmassen fragen, inwieweit sich ein noch größerer Nutzerstrom überhaupt logistisch bewältigen lässt. Oder wer seinen Arbeitsplatz mit dem eigenen Auto in 10 Minuten erreichen kann, während er mit dem Bus über zehn Haltestellen hinweg vielleicht 30 Minuten benötigt, wird sich sehr genau überlegen, ob der Kostenansatz so gewaltig ist, dass er wirklich umsteigt.

Ist kostenloser Nahverkehr völlig von der Hand zu weisen?

Soweit Nahverkehr der „Grundsicherung“ dient, ist er bereits kostenlos. Inhaber eines Berlin-Passes, beispielsweise Hartz IV-Bezieher, Menschen mit Grundsicherung und mit Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz fahren in Berlin gratis. Vielfach macht auch die Idee die Runde, Nahverkehr mit einer Flatrate von etwa 365 EUR anzubieten, so dass jeder Nutzer einen Euro pro Tag des Jahres investieren müsste. In Anbetracht dessen, dass die Tarife in vielen Städten bereits das Doppelte betragen, wäre eine derartige Flatrate bereits ein echter Fortschritt. Wer Bus und Bahn dann viel nutzt, profitiert, wer aber diese wenig nutzt, zahlt möglicherweise drauf.

Fazit

Die Welt, Staaten und Gesellschaften stehen vor großen Herausforderungen. Gerade für den Verkehr müssen wirtschaftlich und sozial adäquate Lösungen gefunden werden. Extreme Positionen führen zu keinen Ergebnissen. Nur ein Mittelweg dürfte sich als praktikabel erweisen. Da dieser nicht vom Himmel fällt, muss er sich in der Abwägung der Argumente für und gegen den kostenlosen Nahverkehr entwickeln. Hierfür darf es keine Denktabus geben.

Artikel-Informationen

Autor Volker Beeden vgwort-pixel

Datum 21. November 2019

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